Close

Olga

Sie betreten gemeinsam das Haus. Michael schließt die Bürotür auf. «Nicht erschrecken. Ich bin nicht allein. Ich teile mir den Arbeitsplatz mit jemandem.» Sie betreten das Büro. Maya schaut sich suchend um. Sie entdeckt außer dem Schreibtisch, zwei mit Büchern und Ordnern vollgepackten Regalen und anderen bürotypischen Utensilien die Sitzgruppe mit dem Tisch, auf dem diverse Unterlagen liegen. In einer Ecke steht eine Schaufensterpuppe, die nur eine knallrote Strumpfhose anhat.

«Darf ich euch bekannt machen? Olga – Maya. Maya – Olga.»

«Ääähh? Was soll das denn?»

«Süß, nicht wahr? Die teilt sich seit einigen Jahren die Miete mit mir.»

«Sicher. Ihr unterhaltet euch natürlich auch, weil es sonst zu einsam ist.»

«So ungefähr.»

«Und wie genau?»

«Olga habe ich von einer Bekannten übernommen. Die hatte eine Boutique, musste aber zumachen, weil es nicht mehr lief. Olga gehörte zum Inventar, das niemand haben wollte. Die arme Püppi wäre sonst im Müll gelandet oder nach Kasachstan zurückgeschickt worden. Wäre schade gewesen. Hier stand sie dann zuerst eine Zeit lang nackt rum, bis ich mir überlegt habe, ihr etwas anzuziehen, das ich bei meiner Frau seit Jahren nicht zu sehen kriege.»

«Und wieso Olga?»

«Weil sie aussieht wie Olga?»

«Ach so. Ja klar. Eure Beziehung beschränkt sich aber auf Gucken und Reden, oder ist es intensiver?»

«Bislang nicht. Vielleicht entwickelt sich noch was. Sie ist zwar eher schüchtern, aber in der Strumpfhose kommt sie mir attraktiver und williger vor.»

«Reicht. Danke. Ich mag es mir nicht vorstellen. Ich finde es so schon ziemlich abgefahren.»

«Da widerspreche ich nicht. Ich mache dann mal den Tee.»

[…]

Tage später besucht Maya Michael wieder im Büro. Sie öffnet ihren Rucksack, nimmt zwei zusammengefaltete Kleidungsstücke heraus und hält sie ihm hin.

«Was ist das?», fragt er.

«Für Olga.»

Michael nimmt die beiden Teile und faltet sie auseinander. Es sind ein schwarzer Samt-Minirock und eine fast transparente, beige-graue Bluse. Die dort aufgedruckten Frauenporträts wecken bei Michael Assoziationen an die Darstellerinnen in historischen Stummfilmen. Maya greift noch einmal in ihren Rucksack und zieht einen BH hervor. Der ist hautfarben, fast durchsichtig, an den Körbchen nahtlos und mit einem Bügel versehen. Das Etikett zeigt die Größe 70A. Michael inspiziert die Sachen. «Was ist damit? Die sehen doch noch gut aus.»

«Der BH ist zu groß und die beiden anderen Teile sind total unmodern. Guck dir die Rüschen am Kragen an. Grauenhaft. Ich weiß gar nicht, warum ich mir so ein Kitschteil gekauft habe.»

«Vermutlich hatte es dir gefallen.»

«Da muss ich unter Medikamenteneinfluss gestanden haben. Was ist jetzt? Willst du sie haben?»

«Ich weiß nicht. Eigentlich sehe ich Olga lieber, wenn sie nur eine Strumpfhose trägt.»

«Sei nicht so», insistiert Maya und zeigt auf die harten Brustwarzen der Puppe. «Die friert. Das sieht man doch.»

«Zerstöre meine Illusionen nicht. Ich habe es für Erregung gehalten. Na gut. Dann werde ich Olga die Teile bei Gelegenheit anziehen. Heute habe ich aber zu viel zu tun, um mich darum zu kümmern.»

„Macht nichts, wenn es noch ein paar Tage dauert. Hauptsache, sie hat mittelfristig die Perspektive, sich nicht weiter zum Sexobjekt degradieren lassen zu müssen. Aber ich bin gar nicht wegen Olga hier.»

«Sondern?», fragt Michael.

«Unser Abschied gestern ist doof gelaufen.»

«Ich hätte es nicht besser formulieren können. Du hast mich ziemlich verwirrt zurückgelassen.»

«Kann ich verstehen. Wäre mir auch so gegangen. Darf ich es jetzt wieder gutmachen? Dann lass uns da weitermachen, wo wir gestern Abend aufgehört haben.“


Hier kann man das gedruckte Buch, eine Epub- oder eine Kindle-Version bestellen.