Am Samstag holt Rieke ihre Freundin sehr früh ab. Nach knapp 50 Minuten haben sie ihr Ziel erreicht. Sie biegen von der Landstraße auf einen kleinen Parkplatz ein, der als Treffpunkt angegeben war. Dort warten neben dem Yogalehrer bereits drei andere Teilnehmer. Zwei junge Frauen, die noch Schülerinnen sein könnten, und ein grauhaariger Alt-68er. Er hat seine langen Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Als Rieke und Maya aussteigen, empfängt sie der typische, erdige Waldgeruch.
«Guten Morgen», grüßt Rieke. Maya schließt sich mit einem gemurmelten «Morgen» dem Gruß an.
Die kleine Gruppe der Wartenden erwidert den Gruß. Nachdem die beiden Neuankömmlinge sich vorgestellt haben, sagt der Yogalehrer: «Zwei Teilnehmer haben gestern Abend abgesagt. Wir sind damit vollzählig.»
Anschließend erklärt er, worum es bei dem Seminar geht. Er erläutert, dass beim Waldyoga keine Matte erforderlich sei. Diese Funktion nehme der Waldboden ein, während Bäume, Baumstämme und Felsen Hilfsmittel seien. Die Gruppe begibt sich ins Innere des Waldes. Unterwegs erklärt der Lehrer, dass ein Mischwald ein idealer Ort für Yoga und zum Meditieren sei. Er weist auf die verschiedenen Baumarten und deren Bedeutung hin. So gilt die Kiefer als friedvoller Krieger, dem das buddhistische Prinzip der Gewaltlosigkeit, Ahimsa, zugeordnet ist. Die Fichte wird als Mittler zwischen Himmel und Erde angesehen und symbolisiert das Prinzip der Begierdelosigkeit, Asteya. Der Holunder steht für Fülle und das Prinzip der Zufriedenheit, Santosha.
Der Lehrer referiert über weitere Baumarten wie Erle, Stechpalme oder Birke, bis sie an einer Lichtung angekommen sind. Sie beginnen mit einfachen Übungen. Sie sollen sich zunächst auf ihre Atmung konzentrieren, die Frische des Waldes aufnehmen und seine unterschiedlichen Gerüche auf sich wirken lassen. Anschließend steht eine erweiterte Achtsamkeitsübung auf dem Programm. Die Teilnehmer bekommen die Aufgabe, mit allen Sinnen die äußeren Einflüsse wahrzunehmen und, im wahrsten Sinne des Wortes, zu begreifen, wie diese auf sie wirken. Die Temperatur, die Grün- und Brauntöne von Bäumen, Büschen und Sträuchern, das Licht, das ganz unterschiedlich auf die Lichtung fällt, die Kommunikation der Vögel, das Rascheln des trockenen Laubes, das Knacken der Zweige, die Oberfläche von Zapfen, Rinden und Totholz, Pilze, Moose und Flechten werden zu einer Gesamtkomposition, die jedes Mitglied der Gruppe anders erlebt.
Nach einer kurzen Mittagspause wandert die Gruppe zu einem kleinen Bach. Sie laufen barfuß und erleben bewusst die unterschiedlichen Strukturen und Oberflächen des Waldes. Das klare und kalte Wasser des Baches sorgt für weitere Erfahrungen. Der Lehrer fordert die Gruppe auf, sich frei zu bewegen und sich ein Element zu suchen, mit dem sie ihre Energie austauschen wollen. Die beiden jungen Frauen erforschen die Beschaffenheit der Bäume. Der Mann zerbröselt abgestorbene Blätter zwischen seinen Fingern. Er saugt deren Duft ein und konzentriert sich auf das Geräusch, das beim Zerfall entsteht. Maya und Rieke suchen sich einen trockenen Fleck, der mit Moos überwuchert ist. Sie legen sich auf den Bauch und streicheln über das feine Gewebe der Pflanzen.
Zum Abschluss des Seminars begeben sich alle wieder zurück zur Lichtung. Dort leitet der Yogalehrer sie bei der Durchführung verschiedener Asanas an.
«Da war eine richtig gute Idee», sagt Maya, als sie später wieder im Auto sitzen. «Ich bin tief bewegt. So habe ich Wald noch nie wahrgenommen.“
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